Ich bin gestorben. Vor wenigen Minuten. Unerwartet und so plötzlich. Ich spüre eine Leichtigkeit. Aber ich konnte mich von meiner Familie nicht verabschieden. Das bricht mir das Herz, ich bin sehr traurig und fühle mich schuldig. Noch ein paar Minuten zu haben wäre auf einmal so wertvoll. Die Zeit ist plötzlich weg, existiert nicht. In dem Moment merkst Du, dass die wichtigste Währung des Lebens nicht Dollar oder Euro, sondern Zeit ist. Die Zeit ist Dein Vermögen.

Ich bin unterwegs, zu einer angenehmen Stimme. Sie fragt mich: “Was hast Du gut gemacht?“. Meine Antwort: „Ich habe mich bemüht, ein guter Mensch zu sein. Ich habe versucht, zu lernen und mich zu verbessern. Ich spürte eine Zufriedenheit bei ihr.

„Was hättest Du besser machen können?“, war die zweite Frage. „Ich hätte gegen Böses mehr Widerstand zeigen können, ich war auf mich fokussiert, wahrscheinlich doch ein Stück zu viel.“ Auch das gefiel ihr.

„Weißt Du, Ali. Es gibt keinen Weg zurück, aber ich kann Dir drei Minuten für einen Abschied mit deiner Familie schenken.
Dafür gibt es aber eine Bedingung. „Für diese drei Minuten musst du durch den Gang der Schmerzen gehen. Das ist der Preis.“

Ich traue mich nicht, sie zu fragen, was der Gang der Schmerzen sei. Außerdem bin ich für drei Minuten mit meinen Kindern und mit meiner Frau für vieles bereit. 3 Minuten klingen jetzt wie eine Ewigkeit. Ich kann sie küssen, umarmen und ihnen sagen, wie sehr ich sie liebe.

Dann bin ich unterwegs. Gang der Schmerzen. Was kann das sein? Der Schmerz gehört zum Leben. Nicht jede Liebe endet positiv, nicht jeder Zahn ist gesund. Schmerz bedeutet Erfahrung, und Erfahrung führt zu mehr Souveränität und hilft immer mehr besser zu verstehen, dass Du nicht wichtig bist, aber wichtiges tuest.

Ich beginne plötzlich einen Schmerz zu spüren, den ich kaum kenne. Also bin ich wahrscheinlich da, am Gang der Schmerzen. Ich spüre einen anderen, negativen Schmerz. Dieser Schmerz gehört nicht zum Leben und kommt nicht vom Leben, er vernichtet sogar Leben. Plötzlich spüre ich Schmerzen von den Tieren, die ausgestorben sind, von den Tieren, die einfach wegen Jagdlust umgebracht wurden. Das tut sehr weh. Ich laufe schnell weg von dort. Es geht weiter mit den Schmerzen. Richtig unangenehm ist der Schmerz an der Stelle von Leuten, deren Würde so verletzt wurden, vor allem durch psychische oder physische Gewalt. Ich hatte so ein schönes Leben, warum nicht jeder. Ich schäme mich jetzt sogar. Weg von dort.

Dann komme ich an die unangenehmste Stelle des Gangs der Schmerzen. Hier spürt man den Schmerz der misshandelten Kinder. Ich spüre, wie eine Seele getötet wird, eine junge Seele. Ich spüre, nicht nur den Schmerz in diesem Moment, sondern auch die Wirkung ein ganzes Leben lang. Man tötet die Seele, und eine Zukunft. Ich halte diesen Schmerz nicht aus. Ich weine, aber niemand hört mich. Menschen redeten die ganze Zeit über Corona, kurz bevor ich gestorben bin. Warum redet man über Misshandlung der Kinder in der Gesellschaft, sogar in der Familie viel weniger, fast gar nicht. Man schämt sich wahrscheinlich. Oder man ist froh, weil man glaubt, dass man doch nicht der/die Betroffene ist. Die ganze Gesellschaft ist betroffen, in Wirklichkeit. Wann kapieren wir das endlich? Wer ist dafür zuständig? Scheiße, ich habe nur 3 Minuten. Ich wollte ein letztes Mal meine Kinder sehen. Kann ich in 3 Minuten doch eine Kinderseele retten? Wie kann ich das erreichen? Ich wollte mich eigentlich nur von meiner Familie verabschieden. Jetzt nein. Lieber Gott, gib mir bitte mehr Kraft und Zeit. Ich muss für die Kinder, für eine bessere Zukunft, kämpfen. Die drei Minuten sind bald um. Ich schreie, damit Menschen mich hören können, ich schreibe, damit Menschen nicht nur 3 Minuten darüber reden. Ich sterbe bald wieder. Ich kenne jetzt den Schmerz, wie eine Seele getötet wird, aber der Körper lebt weiter. Schrecklich.

Irgendwann hast Du deine 3 Minuten, vielleicht. Dann verzettelst Du Dich hoffentlich nicht so wie ich.

Eine Seele von einem Kind ist das Zentrum unseres Daseins und aller unserer Überlegungen. Für eine gesunde Gesellschaft und eine Zukunft mit viel Platz für Gutes.